Ich bin davon überzeugt, dass Lob und konstruktive Kritik dabei helfen, uns weiterzuentwickeln. Aber eine oberflächliche und einseitige „Feedback-Kultur“ schadet mehr, als sie nützt. Siehe dazu auch den Artikel „Die Feedback-Falle“ von Marcus Buckingham und Ashley Goodall.
Wenn du mich fragst, ob du mir „Feedback geben darfst“, sage ich höchstwahrscheinlich
- „klar, immer“, wenn wir uns gut kennen und uns auch positive Rückmeldungen zur Gewohnheit gemacht haben,
- „sehr gerne“, wenn es um ein Gebiet geht, wo du Experte bist und ich Neuling (aber „darf ich dir einen Tipp geben?“ finde ich schöner),
- „ja“ in allen anderen Fällen – aber nur aus Höflichkeit und Neugier. Die ehrliche Antwort wäre „Nein danke, aber du darfst mir gern eine Frage stellen.“
Über die ersten beiden Fälle freue mich. Im Folgenden schreibe ich nur über den dritten, der mir aus mehreren Gründen suspekt ist (abgesehen davon, dass schon die Formulierung „Feedback geben“ sprachlich unschön ist)…
Würdest du mir auch etwas Gutes sagen?
Wenn du mir noch nie positives Feedback gegeben hast, kannst du dir Kritik sparen. Punkt.
Ein bisschen von oben herab?
Wahrscheinlich möchtest du nicht bewusst „von oben herab“ mit mir sprechen, bei mir kommt es aber schnell so an: Weil du mehr weißt als ich, mir Ratschläge gibst, mich kritisierst.
Wenn du keine Überlegenheit vermitteln möchtest, „beweise“ am besten, dass du mir auf Augenhöhe begegnest – zum Beispiel, indem du zuerst mich um Feedback bittest zu einer Situation, die bei dir nicht optimal lief 😎
Weiß ich vielleicht schon
Dass du mir „Feedback geben“ willst, impliziert, dass du mehr weißt als ich. Da könntest du falsch liegen: Wahrscheinlich ist mir das Thema schon bewusst. Selbst wenn du die angesprochene Situation aus einer Perspektive erlebt hast, die ich nicht einnehmen konnte (z. B. Publikum versus Bühne), hat man mir vielleicht schon häufiger dasselbe gesagt. Stell dir vor, wie es dich nerven würde, zum zehnten Mal den selben gut gemeinten Ratschlag zu bekommen 😉.
Weißt du vielleicht nicht
Alles hat einen Grund, auch das Verhalten, das du ansprechen möchtest. Vielleicht
- ist es eine Schwäche, an der ich schon arbeite
- habe ich schon große Fortschritte gemacht, sollte also gelobt und nicht kritisiert werden
- kann ich es zur Zeit nicht ändern
- gibt es eine Vorgeschichte, die du nicht kennst
- mache ich es absichtlich so und erreiche damit ein bestimmtes Ziel
- bin ich gerade privat oder beruflich in einer schwierigen Situation
Es kann gut sein, dass dein Feedback anders ausfallen würde, wenn du meine Gründe kennen würdest.
Also frag lieber
Dein Feedback könnte also überflüssig oder verkehrt sein. Vielleicht aber auch nicht; dann wäre es schade, es unter den Teppich zu kehren. Wie wäre es, wenn du nicht mit einer Aussage startest („du hast …“), sondern mit einer wertfreien Frage: „Warum hast du das so gemacht?“ Nicht als rhetorischer Trick, sondern weil es dich wirklich interessiert. Dann freue ich mich darauf, voneinander zu lernen!